Literaturnobelpreis 1972: Heinrich Böll

Literaturnobelpreis 1972: Heinrich Böll
Literaturnobelpreis 1972: Heinrich Böll
 
Der Deutsche wurde für eine Dichtung, die »durch ihre Verbindung von zeitgeschichtlichem Weitblick und einfühlsamer Charakterisierung erneuernd in der deutschen Literatur gewirkt hat«, ausgezeichnet.
 
 
Heinrich Böll, * Köln 21. 12. 1917, ✝ Langenbroich (Kreuzau) 16. 7. 1985; Buchhändlerlehre in Bonn, 1938 Reichsarbeitsdienst, 1939 Studium der Germanistik und klassischen Philologie in Köln, 1939 Einberufung zur Wehrmacht, 1945 Heimkehr nach Köln, 1951 Preis der Gruppe 47, 1967 Georg-Büchner-Preis, 1971-74 Präsident des internationalen P.E.N.-Clubs.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Als Heinrich Böll im Oktober 1972 während einer Lesereise in Israel von der Verleihung des Preises erfuhr, war seine erste Reaktion: »Was, ich allein und nicht der Grass auch?« Böll war damit der erste deutsche Nachkriegsschriftsteller, dem diese Ehre zuteil wurde. Die Verleihungsrede hebt zwar besonders seinen ein Jahr zuvor erschienenen Roman »Gruppenbild mit Dame« als bisherigen Höhepunkt seines Werks hervor, doch das Bedeutende war, dass ein herausragender Vertreter der Bundesrepublik international Anerkennung fand.
 
Heinrich Böll hatte sich durch politische Äußerungen nicht nur Freunde gemacht. Spätestens auch durch die Preisvergabe, als er in das Schussfeld der konservativen Presse geriet, wurde dies deutlich. So schrieb die »Welt«, Bölls Wahl sei ein Fehlgriff gewesen und der »Bayernkurier« meinte, dass mit diesem Autor schon seit Jahren Schluss sei. Es war der damalige Bundespräsident Gustav Heinemann, der sich angesichts dieser Angriffe vor Böll stellte und mahnend bemerkte: »Die Erkenntnis, dass politische Verantwortung des Schriftstellers zu seiner Verantwortung für Sprache und künstlerische Gestaltung hinzuzutreten hat, muss überall noch um Anerkennung ringen.«
 
 Staub und Stille
 
Als Böll im Jahr 1945 aus dem Krieg nach Köln zurückkehrte, lag seine Heimatstadt in Trümmern. Es war dieses zweite Köln — nach dem ersten seiner Kindheit —, das neben den Kriegserfahrungen den entscheidenden Auslöser für sein späteres Schreiben darstellte. Rückblickend erinnert sich Böll an das, »was nicht sichtbar gemacht werden kann: der Staub und die Stille.« Und er fährt fort: »Staub, Puder der Zerstörung drang durch alle Ritzen, setzte sich in Bücher, Manuskripte, auf Windeln, aufs Brot und in die Suppe.« Aber mit dieser Zeit verbindet sich für ihn auch das Gefühl der Befreiung und damit der langersehnte Frieden, der sein Schreiben erst ermöglichte: »Das war für mich ein Anstoß, ich habe also zwischen 1939 und 45 keine Zeile geschrieben. .. aber das war ein so ungeheurer Impetus nach 45. .., da hab ich sofort angefangen zu schreiben.« Das erste Köln war das verlorene Köln seiner Kindheit vor dem Krieg, wo er als Sohn eines wohlhabenden Schreinermeisters und Besitzers einer »Werkstätte für Schnitzwerke« aufwuchs. Obwohl katholisch erzogen, wurde er vor allem auch von der liberalen Einstellung seines Elternhauses geprägt. Böll verlebte eine, wie er selbst feststellt, »sehr freie und verspielte Kindheit«. Die Nachkriegszeit bestand für Böll aus einer »Gesellschaft von Besitzlosen und potenziellen Dieben«. Schon 1949 erschien mit »Der Zug war pünktlich« sein erster Roman, im Jahr darauf einige Kurzgeschichten mit dem Titel »Wanderer kommst du nach Spa...«. 1953 veröffentlichte er mit »Und sagte kein einziges Wort« den ersten seiner Gegenwartsromane, in denen er bis hin zu »Gruppenbild mit Dame« der deutschen Wirtschaftswundergesellschaft kritisch den Spiegel vorhielt.
 
 Trümmerliteratur
 
Wie kaum ein anderer Schriftsteller hat Böll die Erfahrung des Kriegs zu seinem Thema gemacht. So handelt »Wanderer kommst du nach Spa...« von einem Soldaten, der schwer verwundet in ein Lazarett eingeliefert wird und auf der Trage liegend seine alte Schule wiedererkennt, die er vor drei Monaten erst verlassen hatte: »Mir kam das alles so kalt und gleichgültig vor,. .. eine Welt, die mir ebenso gleichgültig wie fremd war, obwohl meine Augen sie erkannten, nur meine Augen.«
 
Es ist der unsentimentale und schonungslose Blick auf die Realität des Kriegs und der Nachkriegszeit, der für das Schreiben Bölls bis weit in die 1950er-Jahre bestimmend sein wird. Sein Stil ist damit auch geprägt von einem bewussten Bruch mit der hochtrabenden Rhetorik der Nazizeit. In seinem frühen »Bekenntnis zur Trümmerliteratur« ist noch einmal von Augen die Rede, die unvoreingenommen die Wirklichkeit erfassen: »Das Auge des Schriftstellers sollte menschlich und unbestechlich sein: man braucht nicht gerade Blindekuh zu spielen, es gibt rosarote, blaue, schwarze Brillen — sie färben die Wirklichkeit jeweils so, wie man sie gerade braucht.« In diesem Sinn bewahrt sich Böll auch den Blick für die Verlierer der Gesellschaft, in denen er zugleich auch diejenigen erkennt, die sich dem verlogenen Spiel ökonomischer Notwendigkeiten entziehen. So etwa in den Erzählungen »Auf der Brücke« und »Die schwarzen Schafe«. Mit den »Schwarzen Schafen« findet Böll Anerkennung unter seinen Schriftstellerkollegen innerhalb der Gruppe 47. In Bölls überspitzt-satirischem Blick auf Gesellschafts- und Familienverhältnisse findet sich auch seine Ästhetik des Humanen: »Moral und Ästhetik erweisen sich als kongruent, untrennbar auch, ganz gleich, wie trotzig oder gelassen, wie milde oder wie wütend, mit welchem Stil, aus welcher Optik ein Autor sich an die Beschreibung oder bloße Schilderung des Humanen begeben mag.«
 
 Öffentliches Engagement
 
Böll gehörte zu den meistgelesenen Schriftstellern seiner Generation und hat die Öffentlichkeit auch immer wieder dazu genutzt, sich als Staatsbürger kritisch zu Wort zu melden. In seinen »Ansichten eines Clowns« übt er nicht nur scharfe Kritik an den Vertretern der katholischen Kirche und der CDU, sondern wendet sich allgemein auch gegen die restaurativen Tendenzen der Adenauerzeit. In den späten 1960er-Jahren engagiert sich Böll nun auch vermehrt parteipolitisch auf Seiten der SPD. Er mahnt immer wieder zu Mäßigung. So plädiert er für eine rechtsstaatliche Behandlung der Terroristen und wendet sich damit gegen jede Form von Vorverurteilung und Dämonisierung in den Medien: »Ulrike Meinhof will möglicherweise keine Gnade, wahrscheinlich erwartet sie von dieser Gesellschaft kein Recht. Trotzdem sollte man ihr freies Geleit bieten, einen öffentlichen Prozess, und man sollte auch Herrn Springer öffentlich den Prozess machen wegen Volksverhetzung.« Das Terrorismusproblem und die öffentlichen Reaktionen darauf werden dann auch zum Thema seines nächsten Romans, »Die Verlorene Ehre der Katharina Blum: oder Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann« von 1974. Doch Bölls Haltung ist niemals auf einen Nenner zu bringen. Im Mittelpunkt steht für ihn immer die Freiheit der Kunst: »Wie weit sie gehen darf oder hätte gehen dürfen, kann ihr ohnehin vorher niemand sagen; sie muss also zu weit gehen, um herauszufinden, wie weit sie gehen darf, wie weit die ihr gelassene Freiheitsleine reicht.«
 
S. Siemer

Universal-Lexikon. 2012.

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